Al Halqa – immaterielles Weltkulturerbe

Kultureller Reichtum und Vielfalt manifestieren sich bekanntlich nicht nur in herausragenden Schriften, Bildwerken, archäologischen Stätten und architektonischen Räumen, sondern ebenso in sehr viel vergänglicheren lebendigen Ausdrucksformen, wie Musik, Tanz, Gesang und mündlicher Überlieferung.

 

Diese immateriellen Kulturformen zu erhalten und zu schützen ist das Anliegen des UNESCO-Programms „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“.

Tradiert und ständig verwandelt werden diese immateriellen Manifestationen — des Tanzes, der Musik, des Gesangs, der erzählten Geschichten, der rituellen Heilkunde, der mythologisch grundierten Meteorologie, der Astrologie, usf.  —  von Menschen, die dieses Wissen allein auf dem Weg der mündlichen und gestischen Überlieferung erworben haben, um es ihrerseits weiterzugeben.

 

Ohne einem wohlfeilen Kulturpessimismus zu huldigen, kann festgestellt werden — und dies ist auch der Kern des UNESCO-Programms —daß die Kette der Überlieferungen heute brüchig geworden ist und abzureißen droht.

Für diese Traditionen und performativen Techniken bedeutet es einen erheblichen Unterschied, ob sie überwiegend oralen und gestischen Überlieferungsformen folgen oder mit Hilfe heutiger Aufzeichnungstechniken festgehalten und dadurch auf signifikante Weise transformiert werden. Mit anderen Worten: in der Auseinandersetzung mit dem Medium, ja, durch dessen schiere Präsenz werden diese sehr alten Überlieferungen in einer Weise ‚animiert’, wie sie von den Akteuren— den Künstlern und anwesenden Zuschauern gleichermaßen — bis dahin nicht erfahren wurde.

 

Im Jahr 2001 wurde das lebendige Ensemble des Platzes Djemaa El Fna in Marrakesch —  zum immateriellen Weltkulturerbe ausgerufen. Auf diesem Platz, der in seiner heutigen Gestalt gut tausend Jahre alt ist, finden sich täglich Geschichtenerzähler, Akrobaten, Musikanten und Wortkünstler ein – allesamt Leute, die in unserem Kulturkreis bis in die europäische frühe Neuzeit als „Gaukler“ bezeichnet wurden — um das ständig wechselnde Publikum mit ihren Künsten und ihren performativen Darbietungen zu erfreuen, zu begeistern und in Staunen zu versetzen.

Die räumliche Verteilung von Zuschauern und Künstlern, der Ring, der Kreis, zu dem sich die Neugierigen und die Müßiggänger um das Zentrum der Darbietungen schließen, wird als Halqa bezeichnet.

 

Auf diesem sehr belebten großen Platz Djemma El Fna – dem Platz der Gehenkten – fließen die unterschiedlichsten Strömungen von vitalen, archaischen Überbleibseln der immateriellen Künste zusammen; der Platz ist ein wahres Auffangbecken, ein Konzentrat der mündlichen und gestischen Überlieferungen, wie sie vormals in ganz Marokko verbreitet waren. Hier haben sie sich am längsten und relativ ungebrochen erhalten.

 

Al Halqa Virtual

"Al Halqa Virtual" basiert auf der Idee der Halqa, dem Kreis der Zuschauerinnen und Zuschauer auf dem Platz Jemaa El Fna in Marrakesch, der sich um die Akteure formiert. Bei dieser internet-basierten Plattform handelt sich um eine virtuelle Übersetzung, indem Aufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik und Geschichten, sowie Texte abrufbar und zugänglich gemacht werden.

Zusammen mit unterschiedlichen Projektpartnern in Marokko und Deutschland soll nach und nach ein Archiv entstehen, das nicht nur die zirzensischen Künste des Platzes Jemaa El Fna beherbergt, sondern vielmehr sämtliche Formen materieller und immaterieller Kunst in Marokko archiviert und frei zugänglich macht - in Form einer virtuellen Halqa.