Story

Dokumentation und Aura

Dokumentation und Aura: Fotografien und Objekte zum Djemaa el Fna in Marrakesch aus dem Ethnologischen Museum Berlin

Seit es die fotografische Technik erlaubt lebendiges Geschehen festzuhalten, dürfte der Djemaa el Fna in Marrakesch zu einem ständig wiederkehrenden Kameramotiv der unterschiedlichsten Fotografen geworden sein. Die Faszination des Ortes beginnt bei seinem Namen – Platz der Gehängten – , der unweigerlich Erinnerungen an mittelalterliche Despoten  weckt. Und jenseits von aller Vergangenheit haben wir zahlreiche literarische Beschreibungen davon, dass jeder, der den Platz besucht, von einer Ausstrahlung ergriffen wird, die nicht nur durch seine Architektur, sondern ebenso sehr durch die Menschen, die ihn durchqueren, ihre Waren und ihre Künste des Geschichten Erzählens, des Feuer Schluckens oder der Schlangenbeschwörung einem sich ständig in Veränderung begriffenen Publikum anbieten. Der Platz wird zur Bühne, die Akteure werden Teil dieser Bühne und so entsteht ein Gesamtkunstwerk, das im und durch das alltägliche Leben Bestand hat und durch jeden, der immer nur für eine bestimmte Zeit Teil dessen sein kann, jeweils auf neue Weise zustande kommt.

Geben von dieser Aura des Ortes auch die Fotografien von Heinz Westphal Zeugnis?

Zu dritt, d.h. zusammen mit seiner Frau und Ethnologin Sigrid Westphal-Hellbusch, an der Freien Universität tätig, und dem gemeinsamen Freund Kurt Krieger, Kurator für Afrika im damaligen Museum für Völkerkunde, unternahm die Gruppe im Sommer 1959 eine Reise nach Marokko. Heinz Westphal lenkte das Auto, einen VW-Käfer, den er seiner Farbe nach liebevoll „der Grüne“ nannte. Die Reise dauerte zwei Monate, August und September, wovon die Gruppe einen Monat in Marokko verbrachte. Fast täglich wurden neue Städte angesteuert. Jeder Tag der Reise wurde im Tagebuch von Heinz Westphal festgehalten und daher wissen wir, dass  der längste Aufenthalt mit insgesamt vier Tagen der Stadt Marrakesch gewidmet wurde. So sorgfältig wie das Tagebuch wurden auch alle Fotografien der Reise – die als Nachlass von Sigrid-Westphal Hellbusch dem Museum übereignet wurden – dokumentiert. Tagebucheintrag und Fotoaufnahme lassen sich daher zueinander in Bezug setzen, der Kontext der Aufnahme wird deutlicher und hilft uns bei deren Interpretation.

Tagebucheintrag vom 29. 8. 1959

„Heiter, warm, nachmittags bewölkt, kurzer Gewitterregen. 7 Uhr aufstehen, um ½ 8 frühstücke ich unten allein, fahre dann den Wagen in die VW-Werkstatt, treffe Putti [seine Frau] und K. beim Frühstück. Um 9 gehen wir los, kaufen für Putti einen Hut, für mich einen Gürtel, gehen über die Av. Mohammed V zum Platz Djemaa el Fna, trinken Oulmès [Mineralwasser], suchen vergeblich die Douane. K. wird von einer Wespe gestochen. Wir fahren dann mit Bus nach Guéliz zurück, wo wir beim Zoll 8 Filme abstempeln lassen und dann wegschicken. Um 12 kriege ich den Grünen wieder, es soll alles in Ordnung sein und die Bremsbeläge noch sehr gut. Wir gehen ins Hotel, essen gut und legen uns schlafen. Um 3 wecke ich K., um 4 mieten wir uns den Führer des Hotels, fahren über Koutoubia zum Bab Agenou, sehen die Tombeaux Saadiens [Gräber der Saaditen] an, fahren am Sultanspalast vorbei über die 3 Méchouers [? Unleserlich], dann zum Museum Dar Si Said, dann in ein Haus, das zu einem maurischen Restaurant ausgebaut wird.* Dann zur Djemaa el Fna, wo wir erst auf dem Balkon Oulmès trinken, dann über den Platz gehen. Von da über die Neustadt zum Hotel zurück, wo wir den Führer entlohnen (800 frs). Noch ein Bier getrunken, dann gebadet und im Hotel gegessen. Putti geht hinauf und schreibt Karten. K. und ich gehen ins Freilichtkino (James Cagney, L’homme au mille visages). Um ½ 1 ins Hotel, um 1 im Bett. Der Grüne steht auf der Straße.

*In der Nähe Teppichhändler, wir kaufen aber nichts.“

Auf jede(r) ihrer Forschungsreisen hat der Mathematiker und Physiker Heinz Westphal seine Frau begleitetet, Reisetagebücher geführt und fotografiert. Von der Gesamtzahl seiner Aufnahmen wurden vergleichsweise wenige und ausschließlich in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Sigrid Westphal-Hellbusch publiziert. Zur Marokko-Reise liegen uns keine Publikationen vor und somit sind niemals Fotos von dieser Reise öffentlich geworden. Die ausschließliche Verwendung zu wissenschaftlich-ethnologischen Publikationszwecken  seiner Frau deutet darauf hin, dass seine Fotografien als dokumentarisches Hilfsmittel für die ethnologische Forschung verstanden wurden, was der Auffassung der damaligen Zeit entsprechen würde.

Gallery

Fotografien erzählen nicht nur über die Gesellschaft, die mit der Kamera festgehalten wird, sondern auch über die des Fotografen. Beide Momente haben sie mit für ethnologische Museen gesammelten  Objekten gemeinsam. In der Ausstellung werden ausschließlich Objekte gezeigt, die mit den Akteuren der Vergangenheit auf dem Djemaa el Fna in Zusammenhang gebracht werden können, z.B. Verkaufswaren wie Rinden für die Zahnreinigung oder Tabakpfeifen sowie Musikinstrumente der verschiedenen Gaukler. Sie wurden gesammelt im Rahmen der kolonialen und wissenschaftlichen Erschließung Marokkos. Max von Quedenfeldt (1851-1891) bereiste in den 1880er Jahren mehrfach und ausgedehnt Marokko, zeitweise auch als Vertreter der Firma Krupp. Seine ethnologischen Arbeiten stellen den Beginn der wissenschaftlich-ethnologischen Erforschung Marokkos. P. Otto Zembsch war kaiserlicher Korvetten-Kapitän und sammelte 1877 im Auftrag des Museums für Völkerkunde. Genauere Sammlungsumstände, vergleichbar mit den Reisetagebucheinträgen von Heinz Westphal, sind insbesondere bei Zembsch, der für Marokko keine Veröffentlichungen hinterließ, nicht bekannt.

Die Fotografien von Heinz Westphal und die Objekte von Max von Quedenfeldt und Otto Zembsch sind eine Dokumentation zum Djemaa el Fna zur jeweiligen Zeit, auch wenn das jeweilige Interesse, aus dem heraus sie entstanden oder gesammelt wurde die Art der Dokumentation beeinflusste. Ob sie auf dieser Ebene des Dokumentarischen bleiben oder in ihrer Wirkung auratisch darüber hinausgehen, soll hier unbeantwortet bleiben. In dem Buch Storytelling in Chefchaouen Northern Morocco von Aicha Rahmouni sagt der Geschichtenerzähler , dass er, Geschichten erzählend, darüber nachdenkt, wie die Menschen sind, wie sie lebten und wie sie waren – wie sie aßen, tranken und ihre Leben lebten. Das sei für ihn Erholung, Medizin (S. 10). Als Teil des Gesamtkunsthandwerks, des Echten, Einmaligen, Unnahbaren[1], braucht er sich die Frage nach der Aura nicht zu stellen.

 

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PD Dr. Ingrid Pfluger-Schindlbeck, ehem.Kuratorin der Sammlung Nordafrika, West- und Zentralasien des Ethnologischen Museums Berlin (aktualisiert 2022)

 
 
 
[1] Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders., Gesammelte Schriften, Band I, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1972.